Eine Dekade – 10 Einblicke
KUNSTFAKTOR MOABIT
10 Jahre Kunstfaktor

Malerei · Zeichnung · Konzept
20. März – 27. April 2008 · Mi–So 16–20Uhr
Rathenower Str. 45 · 10559 Berlin-Moabit


Ausstellungskritik

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Wolfgang Siano über die Ausstellung
Eine Dekade – 10 Einblicke
im KUNSTFAKTOR e.V. (20.3.–27.4.2008)

 

Der große Galerist Rudolf Zwirner hat vor kurzem öffentlich ge­macht, daß die gegen­wärtige Wert­setzung der Kunst durch den Markt die Dis­kussion um inhalt­liche Kri­terien be­endet habe. Damit be­nennt er die Ver­ein­sei­tigung eines gesell­schaft­lichen Pro­zesses, in dem dieser As­pekt zwar einge­schlossen ist, aber ge­rade da­durch eine immer weiter trei­bende Dynamik freisetzt. Sie beruht darauf, dass aus dem exis­ten­tiellen Kern dieser Er­fahrung, dem Reflex der Per­ma­nenz disso­zi­ieren­der Kräfte, sich im ›inhaltsleeren‹ Raum jeweils neue Zu­sam­menhänge bilden, deren Reich­weite letztlich jede Ver­ein­seiti­gung sprengen. Ich glaube, in diesem Sinn sprach Marx einmal von »unserem alten Freund, dem Maul­wurf der Re­vo­lu­tion«, und dessen Spreng­kraft hat seine Wirk­sam­keit auch unter den Be­dingun­gen einer Tri­via­li­sierung von Poli­tik und Kultur nicht ver­loren.

Kunst erzeugt Kunst und damit immer auch die in sie ein­ge­schlos­senen Grenzen gegen­über ihrem Anderen, wobei jede und jeder, der sich auf sie be­zieht, es wiede­rum in be­grenz­ter Reich­weite tut. Dadurch sind wir stets von neuem auf Ver­stän­di­gungs­mög­lich­kei­ten über diese Grenzen an­ge­wiesen. Genau das macht die Per­ma­nenz des Inhalt­li­chen in der Kunst aus, so dass letztlich jede wie auch immer ge­artete Be­schäfti­gung mit der Kunst je­weils neue Zu­sammen­hänge in einer Welt des Frag­men­ta­ri­schen und Über­kom­plexen hervor­bringt. Darauf beruht die Mög­lich­keit von Ver­ant­wor­tung gegen­über der eigenen Wahr­neh­mung in ihrem Unter­schied zu allen anderen, und aus dieser Art Selbst­be­zug bildet sich auch der Hori­zont des Poli­ti­schen neu.

Ein ausgezeichneter Ort solcher Verständigungs­möglich­keiten, auch der Kunst mit sich selbst, ist der KUNSTFAKTOR e.V., den Frank Benno Jung­hanns seit genau zehn Jahren durch alle Fährnisse geführt hat und den er nun mit der Aus­stellung ›Eine Dekade – 10 Ein­blicke‹ in der Rathe­nower Straße 45 in Berlin-Moabit neu ein­ge­rich­tet hat. Die ›Ver­stän­di­gungs­mög­lich­keit der Kunst mit sich selbst‹ beruht zu­nächst auf der Eigen­ständig­keit und der daraus resul­tierenden Diffe­renz der ein­zel­nen Werke gegen­einan­der, die hier in dieser Aus­stellung in ver­schie­dene Rela­tionen zu­einan­der treten. In deren Zwischen­räumen reali­siere ich als Be­trach­ter die inhalt­liche Di­men­sion, die aus dieser Differenz heraus fest­ge­stellt werden kann; sie er­eig­net sich in dieser Fest­stellung, und die große Klam­mer, die Span­nungs­­pole, inner­halb derer die mög­lichen (Selbst-)Ver­ständi­gungen sich er­eignen, hat Frank Benno Jung­hanns mit zwei eigenen In­stalla­tionen gesetzt.

Seine Arbeiten thematisieren die Erfahrung künstlichen Lichts in der zeit­lich ver­scho­benen Gegen­über­stel­lung einer bild­haf­ten Idee von über­zeit­licher Dauer mit der augen­blicks­haften Gewalt einer in diese Augen­blicke zer­falle­nden Reali­tät. Tags­über, während der Öff­nungs­zeiten, er­scheint am Ende des Galerie­korridors die schon in den alten Räumen des KUNST­FAKTOR e.V. als Leucht­kasten ange­brachte Foto­grafie einer Grab­plastik aus Pisa. Sie zeigt die Ideal­ge­stalt eines jugend­lichen Akts, der die Un­sterb­lich­keit der Seele des Ge­stor­benen in meta­pho­ri­scher Leib­haftig­keit vergegenwärtigt. Die in den vorderen Galerieräumen unter die Decke montierten Strobos­kop­lampen bringen die Wahr­neh­mungs­disso­ziation, die mit der All­gegen­wart künst­lichen Lichts ver­bunden ist, als reale Gegen­wart zur Er­fah­rung. Bei Dunkel­heit, wenn die Galerie ge­schlossen ist, er­mög­li­chen sie in un­regel­mäßi­gen Ab­stän­den kurze Blicke in die laufende Aus­stel­lung, die nur als Nach­bilder fragmen­tarische Dauer ge­winnen.

Der fragmen­tarischen Dauer entspricht die gestische Vergegen­wärtigung des Au­gen­­blicks, die Stefan Kreide sowohl in seinen Zeich­nungen als auch in seiner Aktion des ein- bis zwei­stündigen Stehens an einer Straßenecke vor der Galerie unternommen hat. Es ist die begrenzte Reich­weite empirischen Daseins, die gleicher­maßen durch die Aktivi­tät des Striche-Setzens wie des Still-Stehens doku­mentiert ist. Die Selbst­bezüglich­keit dieser Aktivi­täten verortet eine körper­liche Singu­lari­tät, die auf das Wahr­genommen­werden als kommu­nika­tives Angebot gerichtet ist. Die Bedingung seiner Frei­setzung ist die Aner­kennung der dafür grund­legenden Differenz, die auch die Irreali­tät seiner auf ein Blatt gezeichneten Wort­wörtlich­keit ein­schließt: »If I were you we could«.

ARX dagegen nutzt die Fremd­heit der Sprache als Spielform, verortet sie gewisser­maßen auf einem doppelten Boden, den er hand­greif­lich aus alten Dielen als Träger ihrer Zeichen zum Vexier­bild von Ambi­valenz und Ent­scheidungs­zwang ge­formt hat. Sein antiki­sierendes Laden­schild mit chi­ne­sischen Schrift­zeichen kann der ober­flächlichen Wahr­nehmung als eben nur ein Werbe­emblem er­scheinen, doch ihr Sinn stellt den Be­trachter wieder in die existen­tielle Heraus­forderung, das Differente auf­einan­der zu beziehen: Die chi­ne­sischen Schrift­zeichen stehen für die Worte ›Werte‹ und ›Fakten‹, und in dieser Doppel­sinnig­keit the­mati­sieren sie die Schau­räume der Galerie auch an der Fassade, wo sie jeweils auf der Außen­beleuchtung ange­bracht sind.

Auch Gerard Janssen arbeitet in seinen Zeich­nungen mit der Fremd­heit von Ver­trautem, d.h. mit einer Irri­tation, die auf dem Ver­hält­nis der nament­lich be­nenn­baren Iden­ti­tät von Ob­jek­ten sowie der bild­haf­ten Leere beruht, die aus der räum­li­chen Durch­lässig­keit ihrer linear um­rissenen Formen resul­tiert. Diese Durch­lässig­keit erzeugt eine Ort­losig­keit des Ge­fühls, in der die Zeich­nungen zum Pro­jektion­sraum für Em­pfin­dungen werden, die der persönlichen Erinnerung an und der Ver­bindung mit den darge­stellten Objekten ent­springen. Die Leere der alltäglichen, all­ge­meinen Bedeutung dieser Bild­vzeichen teilt sich nach außen mit als Einlasszone für wechselnde indivi­duelle Per­spek­tiven.

Das Zusammenwirken von Raum, Objekt und Zeichen ist der ›blinde Fleck‹ des All­tags, sein Rätsel. Es ge­schieht, und es wird durch Hand­lungen be­wirkt, deren Folgen nicht zu er­fassen und nicht zu be­denken sind. Wir leben nach dem Prinzip von Ver­such und Irr­tum, von Wieder­holung und Ver­trauen. Dabei können sich di­ver­gente Hand­lungs­perspek­tiven zu Struk­turen ver­schränken, die dann ein Eigen­leben entfalten. Bei Jörg Hasheider wird das Bild zur An­schauungs­form, zur sym­bo­lischen Realität dieses Vor­gangs. Als solche reflek­tiert es sich im Emblem des Terminus ›The Bremer Stadt­musikan­ten Principle‹, der in der Bio­logie die Symbiose ver­schiedener Arten zu kom­plexen und über­lebens­fähigen Struk­turen bezeichnet. Die in sich ge­schlossene Umriss­form der vier über­einander stehenden Tiere bildet eine sprach­bild­liche Einheit, die einerseits, als Bild­element, in Hinsicht auf die übrigen Ebenen des Bildes, eine zen­trierende Funktion hat. Durch dieses Element ist jedem einzelnen Bild, das als Teil der beliebig fort­setz­baren Serie ›Fab­scape‹ konzipiert ist, der Flucht­punkt seiner ihm zugrunde­liegenden Handlungs­perspektive, nämlich der Kon­struktion eines immer wieder­kehrenden Sche­mas, gegen­ständlich ein­ge­schrieben. Andrer­seits ist sie, in der Abstrakt­heit ihrer begriff­lichen Referenz, Teil des magischen Pro­zesses, in dem sich, als gegenläufige Per­spek­tive, der beständige Wandel dieser Bild­welten voll­zieht.

Dem Schema der sprachbildlichen Einheit des Emblems ist die fotografische Einheit des Luftbilds einer gleich­bleibenden In­dus­trie­landschaft als Referenz und Re­flexions­grund der Rätsel­haftig­keit evo­lu­tio­nä­ren Wandels hinterlegt. Das Kamera­auge objekti­viert die Welt und die wissen­schaft­liche Kon­struk­tion seines Fokus‹ trans­zendiert den Flucht­punkt ihrer natür­lichen An­schauung, den mensch­lichen Blick. Aus dieser gedank­lichen, in­di­rekten Per­spek­tive wird er sich selbst zur Idee – dauer­haft im Medium selbst­bezüg­licher Bilder wie der in Auf­sicht ge­malten Land­schaf­ten, die Thomas Dzieran uns zeigt. Indem er die tech­nischen Voraus­setzungen eines solchen Sehens – hier die foto­grafische Objekti­vation von Land­schaf­ten in Auf­sicht und Über­flug – ein­klammert, rekon­struiert er die natür­liche An­schauung als gegen­wärtige Utopie. Er ver­ortet sie in der aus­schnitt­haften Momen­taneität ver­schiedener Augen­blicke und An­sichten, die in ihrer ver­springen­den Hängung ein eigenes Spiel mit dem abbild­lichen Inei­nan­der der natürlichen An­schau­ung von Nähe und Ferne be­treiben.

Diese malerisch definierten Räume der begrenz­ten, vorüber­gehen­den Ein­heit von Nähe und Ferne sind Kon­struk­tionen der Selbst­behaup­tung natür­licher An­schauung in­mitten eines realen Raums ab­strak­ter Objek­tivi­tät. Im bild­lich vor­ge­stellten Horizont land­schaft­licher Natur wird die physische An­wesen­heit der Be­trachter ge­brochen und auf­ge­hoben in der Per­spek­tive eines un­mittel­baren körper­lichen Selbst­bewußt­seins. Durch sie er­weitert und vertieft sich das Verhältnis von Nähe und Ferne in das Pro­blem der plas­tischen Präsenz von Innen und Außen als der Gleich­zeitig­keit und dem Nach­einander ihrer Wahr­neh­mung. Wie eine logi­sche Ergänzung zu diesen Arbeiten treten uns daher die Bilder Regula Zinks entgegen: abbild­liche Mani­festa­tionen ihres male­ri­schen Selbst-Bewußtseins in der Haltung figür­licher Vor­bilder aus der Kunst­ge­schich­te der Renaissance und des Barock. Im Nach­bilden ihrer Be­we­gungs­auto­no­mie, die aus der Dynamik des Ver­hält­nisses von Zentral- und Luft­perspek­tive ent­wickelt ist, gewinnt die ma­le­ri­sche Selbst­be­haup­tung Regula Zinks Kraft und Ge­stalt. Die kon­struk­tiven Setzungen der Farben als Material und gesti­sche Spur machen sie zu seis­mo­gra­fi­schen Indizes der Ober­flächen­spannung körperlicher Em­pfin­dung auf der Grenze von Innen und Außen.

Die Gegenläufigkeit solcher Empfindungen wird als Entäußerung und Übertragung körperlicher Selbst­be­fra­gung reflektiert, d.h. der illusio­nis­ti­sche Schein der Vor­bilds ist verkehrt in die physische Präsenz des Nach­bilds, den Pro­zess seiner Mate­riali­sation. Treibe ich diesen Ab­strak­tions­vor­gang noch einen Schritt weiter, wird aus der Nähe zur Eigen­ständig­keit der Farben als Material zugleich deren Ferne; sie objek­ti­vieren sich als räum­liche Ereig­nisse, deren Dynamik auf der reaktiven Be­wälti­gung ihrer darin hervor­tretenden Selbst­bezüg­lich­keit beruht. Für sich sind sie Raum, Objekt und Zeichen ineins, und die Kunst besteht darin, diese Imma­nenz zu ent­falten, sie durch Korres­pon­den­zen und Kon­traste asso­ziativ zu struk­turieren und so die Farben als Kom­plexe sinn­voller Rela­tionen zu drama­ti­sie­ren. An Eva Schlutius' Bildern sehen wir, daß diese Kunst be­deutet, sich an die Farbe zu ver­lieren, sich ihr phy­sisch und psy­chisch zu über­lassen, bis sie zu bild­lichen Ent­sprechun­gen und Nach­klängen ge­langt ist, die als Aus­druck solcher Ver­aus­ga­bung sich zu ebenso ein­dring­lichen wie durch­lässi­gen räum­lichen Über­lage­rungen zu­sammen­schließen.

Der physische Akt des Heraus­tretens aus der Imma­nenz der Farbe ist ein Akt der Distanz­setzung und Grenz­ziehung. Er verweist ebenso auf die objekt­hafte Ab­strakt­heit der Außenwelt wie auf deren zeichen­hafte Ent­sprechung, die Sprache. Ihre poe­ti­sche Di­men­sion über­schneidet sich mit der des materialen Bild­gesche­hens, wobei sie ihm ent­weder ent­gegen­gesetzt oder vor­aus­gesetzt ist. Wie Letzteres sich zu einer eigenen räumlichen Erzählform ent­falten kann, zeigen die Ar­beiten Gerard Dekkers. Ihr zeich­ne­rischer Duktus be­zieht sich in in­di­rekter An­schau­lich­keit auf den kon­kreten Wort­sinn alltäglichen Sprechens. Er er­scheint in der asso­ziativen Drama­turgie von Licht- und Schatten­zonen als Rück­projektion auf die Wände des Innen­raums reiner Empfindungen. Diese stoffliche Rekonstruk­­tion eines ursprüng­li­chen Pro­jektions­ver­hält­nisses zur Welt wird zum Medium und Aus­drucks­trä­ger des immateriellen Zu­sammen­hangs poe­ti­schen Er­zäh­lens, der als eine Folge materialer Resonanzen auf psycho­physische Abläufe erfahren werden kann.

Die objekthafte Abstraktheit der Außenwelt hat im Bild als Objekt seine lo­gi­sche Ent­sprechung, d.h. die gegen­ständ­liche und die be­griff­liche Ab­strakt­heit sind in der Leere ihrer for­ma­len Relation mit­einan­der identisch. Die Er­fahrung dieser Leere als Re­flexions­raum em­pi­ri­schen Da­seins findet ihren Aus­druck in der Poesie eines Han­delns, das die Differenz zwischen Bild und Begriff in einer an­dauern­den Folge von exis­ten­tiellen Setzungen wieder­her­stellt. Auf diese Weise wird das Potential kom­muni­ka­tiver An­schluß­mög­lich­keiten jeweils neu er­öff­net und als evo­lutionä­rer Zu­sam­men­hang offen­gehalten. Hier gibt es nun eine Be­rührung mit dem Be­ginn meiner Über­le­gungen, und für mich liegt darin die Pointe ihres bis­herigen Verlaufs. Ich denke, dass diese etwas chao­ti­sche Form von Re­kur­sivität in jeder künst­leri­schen Tätig­keit zum Tragen kommt, und manch­mal wird die ihr zu­grunde­liegen­de Erfahrung un­mittel­bar the­ma­tisch. So wie in den frühen Arbeiten ter Hells, der mit der pro­gramma­tischen Setzung des ›Ich bin’s‹ oder der Serie von ›Bezüge’-Bildern an einer persön­lichen Neu­for­ma­tierung des existen­tiellen Ver­hält­nisses von Bild und Begriff ge­ar­bei­tet hat. Aus deren je­wei­li­ger Kon­struk­tion hat er ein Ver­fahren ent­wickelt, das er hier als ›Haus­ord­nung‹ vor­stellt. Wer ihre Titel ge­nauer ansieht, kann sie als weit­reichende Weg­marken seiner An­strengun­gen ver­stehen, die Ab­strakt­heit der Welt mit den Mitteln bild­nerischer Ab­straktion zu er­schließen.

Wolfgang Siano
April 2008


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